CLEMENS PORIKYS

THE SETTING SON

18.01.2011 – 27.02.2011



Fotografien von Clemens Porikys & Texte von Henrike Dessaules

Als Clemens Porikys und Henrike Dessaules im Frühjahr 2009 gemeinsam Kopenhagen erkundeten, befreundeten sie sich mit der lokalen Rockband The Setting Son, welche bei einem Konzert ihr neues Album vorstellte. Henrike, die ein Jahr in Kopenhagen lebte, verbrachte viel Zeit in der Parallelwelt des Bunkers, dem beliebtesten Treffpunkt und Partykeller der Band. Clemens Porikys, fasziniert von der exzessiven Lebensweise, fotografierte ein Wochenende lang die Musiker, ihre Freunde und deren 'Alltag' aus Sex, Drugs & Rock'n Roll. Dabei entstanden Bilder wie aus einer vergangenen Zeit, als lange Haare, nackte Haut und elektronische Orgeln ein völlig neues Lebensgefühl widerspiegelten.

Website: www.clemensporikys.com

Video von der "The Setting Son" Vernissage


„Lass uns runter gehen und etwas schlafen“, sagt er. Mir ist nicht nach schlafen. „Ok.“ Er schaut mich müde an; seine Augenlider blinzeln wie zwei erschöpfte Schmetterlinge. Es ist der erste skandinavische Morgen, an dem die Sonne Wärme spendet. Er liegt ausgebreitet auf einer gammeligen Matratze und raucht; ein paar Meter weiter schläft ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und blau lackierten Fingernägeln. Bierdosen und eine leere Flasche Wein säumen die spärlichen Grasflecken und den Sandweg, der zur hölzernen Luke auf der anderen Seite des Hügels führt. Es ist mein erstes Mal am Bunker.

Seit einer Stunde bin ich hellwach, bin kilometerweit im Morgengrauen den Stadtrand abgefahren auf der Suche nach ihm. Dabei kennen wir uns erst seit ein paar Tagen. Sein Anruf hatte mich geweckt. Er wäre am Bunker, sagte er. Der Bunker? Welcher Bunker? Ob ich nicht dazukommen wolle. Den Sonnenaufgang beobachten. Dazu ist es jetzt zu spät.

Ich folge ihm die steinernen Stufen hinab. Ich hatte ein kaltes dreckiges Loch erwartet, Betonwände die von nackten Glühbirnen spärlich erleuchtet werden, der Boden mit Matratzen provisorisch ausgelegt, um einen feuchten schimmligen Untergrund zu verstecken. Einen Bunker eben, nichts weiter als ein zum Proberaum umfunktionierter muffiger Keller für arbeitslose Musiker und ihr kaputtes Gefolge. Aber dies hier ist so viel mehr: eine postmoderne Hippiehöhle, ein Raumschiff à la Barbarella, ein Obdach für bedrohte Subkulturen. Von den Postern an den Wänden schauen zahlreiche sechziger Jahre Ikonen erwartungsvoll auf mich herab.
Er schließt die schalldichte Tür hinter mir. Kein Geräusch von außerhalb kann hier eindringen. Und kein Geräusch gelangt nach draußen. Keine Fenster, keine Öffnungen. Ich fühle mich eingeschlossen, aber auf eine seltsam sichere und behagliche Weise. Der Bunker umhüllt mich wie ein runder warmer Kokon. Ein rotes Licht über der Tür erhellt nur das Nötigste, wie die Notbeleuchtung der allerletzten Zuflucht nach dem nuklearen Winter. Endstation. Hier gibt es kein Entrinnen. Aber will ich das überhaupt?

Langsam bewegt er sich zu dem ausgeklappten Sofa und beginnt sich ganz nonchalant zu entkleiden, bis er splitternackt vor mir steht und schließlich unter die Bettdecke kriecht. Ich zögere eine Weile, bin noch nicht sicher, was meine Rolle in diesem Szenario ist, bis ich mich dazu entschließe, es ihm gleich zu tun. Unter der Bettdecke umarmt er mich sofort und schlingt seine nackten Beine um mich wie ein Ritual, das wir seit Jahren miteinander teilen. Seine Zunge in meinem Mund fühlt sich schwer an und schmeckt süßlich nach Whiskey und indischen Zigaretten. So wälzen wir uns eine Weile auf dem Bett herum, unsere Körper ineinander verschlungen und doch träge, und dabei fällt die Decke auf den Fußboden, das rote Licht schaltet sich willkürlich an und aus und unsere Haut beginnt zu kleben. Dann höre ich nur noch die Geräusche unserer Körper und irgendwo summt leise ein Generator.

Über eins bin ich mir noch nicht im Klaren: Habe ich hier zu mir selbst gefunden oder bin ich dabei, mich zu verlieren? Manchmal erscheint alles zu gut um wahr zu sein und manchmal macht mich das stete Knistern in der Luft fast wahnsinnig.

Ich schau mich um und sehe einen Bienenkorb voller schrecklich-schöner Kreaturen. Tagein, tagaus schwirren sie umeinander herum, mit nichts anderem im Sinn als einer Gemeinschaft, in der sie um ihrer selbst willen geliebt werden. Vielleicht haben sie keine Ahnung vom Leben, aber sie wissen wie man lebt. Alles – ihre Musik, ihr Tanz, ihr Gelächter – begeistern durch ihren Übermut und ihre Sorglosigkeit, aber in jedem einzelnen von ihnen steckt ein düsterer Kern und diese verdammte Ungewissheit: Wird es immer so sein? Am schlimmsten ist die Erkenntnis, dass jede Antwort darauf nur schmerzhaft sein kann. 

Manchmal wird eine von ihnen von der Wirklichkeit eingeholt und bleibt weinend am Lagerfeuer zurück. Doch die Musik, der Gesang gehen immer weiter. Dies ist weder der Ort noch die Zeit um Melancholie zu verbreiten. Bestimmt wird bald jemand kommen, in deren Armen sie sich verlieren kann und die ihre Tränen wegküsst. Oder jemand, der sie mit nach unten zieht und mit dem sie zwischen den Decken ihre Angst aus der Brust keucht. Niemand bleibt allein, niemand bleibt zurück.

Hier soll jeder jeden lieben, doch in Wahrheit musst du nur dich selbst lieben, deinen Körper, deinen Sex. Diese obligatorische Freizügigkeit, privat oder öffentlich; sie ist kein Ausdruck des individuellen Narzissmus, sondern das Verlangen nach Anerkennung. Be groovy or leave steht auf einem Schild über dem Eingang. Es geht darum, den anderen zu beweisen, dass du frei bist.  Ich habe diese Freiheit gekostet und nun bin ich süchtig. Meine Haut ist ein Teppich aus erregten Nervenenden. Im Moment gibt es nichts Schöneres als mit glühendem Gesicht hier unten zu sitzen und diese Mischung aus Rauch, Staub und ihrem Schweiß zu atmen. Auf einmal ist alles so einfach. Mein Leben reduziert sich auf die elementarsten Instinkte und Reize: Essen, Trinken, Sex. Mein Tagesablauf besteht aus Frühstück, Kaffee, das erste Bier, der erste Cidre, mehr Kaffee, mehr Essen, mehr Alkohol bis zum Mitternachtssex und/oder Morgensex, der das nächste Frühstück überflüssig macht. Noch nie war Monotonie so verführerisch. Halbherzig verfolge ich meinen geistigen Verfall. Philosophie, Geschichte, Kultur – wen interessiert's? Mir doch egal, wenn die Welt zugrunde geht; ich will nur dabei sein, wenn es passiert. Denn ich weiß, hier unten bin ich sicher und der Tanz dauert bis in alle Ewigkeit.

Der Bunker hinterlässt bei jedem seine Spuren. Egal, ob du etliche Male hier verbracht hast oder nur ein Wochenende, es verändert dich. Am Anfang bist du fasziniert, dann stößt es dich ab, und schließlich stellst du fest, dass du immer lieber hier wärst als irgendwo anders..." 

Henrike Dessaules